home
Jugendhilfe Schwerstkranke Kinder Kultur/Kültür Dolmetscher/Übersetzer Erlebniskochen
Texte und Musik aus Anatolien Eigene Literatur
Nazar Boncuğu
Home
Vita
Kontakt
Publikationen
Links
Impressum
Datenschutz
 

"Alis Busfahrt nach Istanbul"

Kaum zu fassen; in ein paar Stunden sollte er schon in Deutschland sein. Er würde seine Eltern, seine Schwestern, seinen Bruder Ismail und die ganzen Kumpels wiedersehen, die er voriges Jahr kennen gelernt hatte. Er würde sich vom Sperrmüll wieder ein nettes Fahrrad aussuchen, zurechtflicken und
mit diesen Kumpels endlose Radtouren unternehmen. Er versuchte sich noch zu vergegenwärtigen,
was er alles auf Deutsch sagen konnte: „Brot“ zum Beispiel, „Fritten“, „Wasser“, „Bier“ und „Arsch-
loch“. Sein Freund hatte allerdings gesagt, lauf lieber weg, wenn Du das zu Jemandem sagst und er stärker ist, als Du“

Da Deutschland letztes Jahr Fußballweltmeister wurde, wusste er mit den Deutschen ohnehin leicht Kontakt aufzunehmen. Dazu musste man gar nicht so viel Deutsch können. Er sagte „Bedschkenbauer“ in dem er „Beckenbauer“ auf Türkisch vorlas und seinen rechten Daumen hochhielt. Das machte doch jeden Deutschen happy...

Vorsichtshalber guckte er noch mal nach, ob sein Flugticket und die Überland-Busfahrkarte noch da waren. Geld hatte er nur noch wenig, war ja auch egal. Wenn er erst mal in Istanbul ist, dann würde
er in ein Linienbus einsteigen und ab zum Flughafen! Und das Geld, das er noch hatte, würde allemal
für diesen Linienbus ausreichen. Also bereute er weder den Kinobesuch (auch den zweiten nicht)
noch den Alexander-Kebap, der zu den international bekannten Spezialitäten dieser Stadt gehörte.
Als er an diesen Döner dachte, lief ihm wieder das Wasser im Mund zusammen...

Da er noch Zeit hatte, schlenderte er durch den Busbahnhof. Seine Tante hatte ihm gesagt, er solle
sich vor Fremden ja in acht nehmen und den Koffer gerade tragen, damit der Frischkäse für seine Mut-
ter nicht ausliefe. Er beobachtete die Leute, die wie Ameisen hin und her hasteten. Plötzlich kam ihm sein Kunstlehrer in den Sinn. Er hatte gesagt: „Kunst ist nicht liniengetreu zu zeichnen, sondern sich dem Objekt zu nähern, es kennen zu lernen“. Komisch, diese Kunstlehrer: Der andere davor, der hatte dem Ali eine fünf gegeben, weil das Verhältnis Auge-Nase beim Gesichtsportrait nicht gestimmt hatte...

Bursa ist die ehemalige Hauptstadt der Osmanen, hat 600.000 Einwohner und ist von Istanbul genau 235 km entfernt. Das hatte sein Vater ein mal gesagt, als er von Deutschland, wo er Gastarbeiter war, in die Türkei in den Jahresurlaub kam. Er hatte die Strecke auf dem Tacho seines Ford-Transits fest-
gehalten und es seinen Freunden erzählt, die zu einem „Willkommensbesuch“ zu ihnen gekommen waren. Bei dieser Unterhaltung war auch Ali zugegen und hatte Tee serviert.

Nun war der Bus da. Ali stieg ein, suchte seinen Sitzplatz. Es war die Nummer fünf. Da saß aber be-
reits eine ältere Dame. Sie schaute von ihrem Fenster aus nach draußen und bemerkte nicht, dass
Ali neben ihr stand. Ali tippte ihr auf die Schulter:
„Entschuldigen Sie bitte, Tante, aber das müsste mein Platz sein.“
Sie drehte sich um, rückte ihr Kopftuch zurecht und schaute Ali über die Ränder ihrer Brillengläser hinweg an.
„Ich glaube Sie irren sich, junger Mann. Meine Tochter hat mir beim Einsteigen diesen Platz gezeigt
und sie irrt sich selten. Aber Sie können sich ja meinen Fahrschein ansehen, wenn Sie wollen.“

Ali sah sich erst ihren Fahrschein an und dann seinen. Tatsächlich; beide hatte dieselbe Nummer.
Das Reisebüro hatte ihnen offensichtlich den Platz doppelt verkauft.
„Mensch“, dachte er, „wann soll denn dieses Chaos in der Türkei aufhören?“
Während sie da standen, kam der Busfahrer zu ihnen:
„Was ist hier los?“
„Man hat uns dieselben Sitzplätze verkauft.“
Daraufhin wandte sich der Busfahrer, zum Ali:
„Es gibt doch noch genug andere Plätze im Bus. Setz' Dich irgendwohin und stör' die Dame nicht,
klar?“


Der Bus fuhr los. Ali setzte sich im hinteren Bereich des Busses auf einen freien Platz und war maßlos über diesen Busfahrer verärgert. Was bildete er sich denn ein? Hatte er denn einen Platz doppelt verkauft, oder was!? Sie waren zwischenzeitlich schon 30 km gefahren. Der Kontrolleur ging seiner Arbeit nach und kam auch langsam auf den Ali zu. Ali sah ihn, zog seine Fahrkarte hervor und zeigte
sie ihm.

Der Kontrolleur war ca. 40 Jahre alt. Er war groß und breit und hatte einen Rakibauch. An der rechten Wange war die Spur eines tiefen Schnittes zu sehen. Ali fragte sich, welcher Söldnertruppe er wohl entkommen sein mochte. Der Kontrolleur guckte Ali irritiert an:
„Wo hast Du denn diese Fahrkarte her?“
„Wieso? Vom Busbahnhof natürlich.“
„Na ja, mit der Karte kannst Du bei uns nicht mitfahren.“
„Warum denn das nicht?“
„Tja Junge, die Karte ist nicht von unserer Firma; Du bist im falschen Bus...“

Der erste Gedanke, der Ali durch den Kopf schoss, war sein Koffer und der Frischkäse von seiner
Tante. Der zweite war nur noch: „Scheiße!“
„Wo willst Du denn hin?“ fragte der Kontrolleur.
„Nach Istanbul.“
„Hast Du denn wenigstens Geld bei Dir?“
„Ja, aber nur noch ein bisschen.“
„Na, wie viel denn?“

Ali spürte inzwischen wie sich die 60 Augen im Bus auf ihn gerichtet hatten. Es wurde ganz heiß in seinem Körper. Womit hatte er das alles nur verdient? Er ließ den Kopf hängen und flüsterte:
„Nur noch 20 Lira.“

Er erwartete jeden Augenblick die Ohrfeige von diesem unheimlich aussehenden Kontrolleur. Er bereitete sich innerlich schon darauf vor.
„Hör' mal, Du kannst mich doch nicht verarschen! Hast 20 Lira in der Tasche und sagst mir, dass Du
nach Istanbul willst. Mit 20 Lira kann man doch nicht mal essen gehen, weißt Du das?“

Er hatte ja recht. 20 Lira war nun wirklich nicht viel, aber was ging ihn das denn an?
„Was willst Du in Istanbul?“
„Ich muss zum Flughafen, dann fliege ich nach Deutschland.“
„Junge, lüg' mich nicht an, sonst knallt's!“

Die 60 Augen guckten immer noch nicht weg. Der Bus fuhr weiter und Ali schämte sich in Grund und Boden. Ach, wenn er doch jetzt tot wäre oder so was. Er wiederholte wieder, was er gesagt hatte.
Ali hörte Flüstern und Gelächter und sah die unheimliche Gestalt von diesem Kontrolleur. Er war in
einer echten Sackgasse. Ach, hätte er doch diesen blöden Döner ausspucken und das Geld dafür wiederhaben können! Oder er bräuchte jetzt einen Zauberstab, so wie im Märchen: „Hokuspokus“
und schon war das Geld da. Notgedrungen log Ali:
„Wissen Sie Onkel, mir ist das Geld von Taschendieben gestohlen worden.
Und das mit Deutschland ist wahr. Sehen Sie, hier ist mein Reisepass und das Ticket.“
„Aber wie willst Du denn vom Busbahnhof in Istanbul zum Flughafen kommen?“

Der Kontrolleur hatte sich wieder beruhigt. Aber die anderen Reisenden glotzten immer noch. Das
war das Schlimmste von allen. Ali antwortete wie ein Blitz:
„Ganz einfach: Wenn ich da bin, steige ich in einen Linienbus und fahre zum Flughafen.“
„Da bin ich mir aber nicht so sicher, ob Du — wenn wir da sind — noch einen Anschluss findest.“

Der Kontrolleur wurde gerufen. Er drehte sich nach der Stimme um, ging ihr nach: Es war die Dame,
die Ali vorhin noch von ihrem Platz hatte drängen wollen. Der Kontrolleur beugte sich zu ihr und sie sprachen miteinander. Der Kontrolleur kam wieder zu Ali zurück:
„Diese Dame möchte die Fahrtkosten für Dich übernehmen. Ich will aber vorher mit dem Busfahrer sprechen, ob Du nicht auch einfach so mitfahren kannst.“
Er ging zum Fahrer, kam wieder zurück. Ali hatte die beiden noch miteinander lachen sehen.
„Also, Du kannst so mitfahren. Ich glaube aber trotzdem nicht, dass Du heute nach Deutschland flie-
gen kannst.“
„Wieso nicht?“
„Weil, wenn wir da sind, Du ein Taxi nehmen musst. Und die kosten bekanntlich mehr als 20 Lira.
Und außerdem kannst Du Dich bei der Dame bedanken.“

Ali fand diesen Kontrolleur nun gar nicht mehr hässlich und schrecklich. Er war der netteste Mensch
auf dieser Welt. Ali ging nach vorne — ihm stand noch immer die Röte im Gesicht — und bedankte sich
sbei der Dame für ihre Hilfsbereitschaft. Sie lächelte nur und nickte mit ihrem Kopf wohlwollend und ermutigend.

Als er wieder Platz nahm, schloss er gleich die Augen und tat so, als ob er schliefe. Er spürte, dass
die 60 Augen nicht mehr auf ihn gerichtet waren. Endlich seid ihr wieder euch selbst überlassen, frohlockte Ali innerlich. Und er würde doch zu diesem blöden Flughafen kommen flüsterte er. Notfalls würde er seinen Koffer verkaufen, sogar den Frischkäse von seiner Tante, der unter Kennern eine
echte Rarität war. Der Koffer war allerdings in dem anderen Bus mitgefahren. Diesen Luxus muss sich erst einmal einer leisten, schmunzelte Ali frech. Der Flug ging um 22.00 Uhr. Und um 20.00 Uhr sollten sie am Busbahnhof sein. Er hatte dann immer noch 2 Stunden Zeit, um die 20 km Entfernung zurückzulegen — notfalls zu Fuß. Ja!.. Zu Fuß!..

(Ali ist nach einigen Abenteuern im Busbahnhof angekommen und hat seinen Koffer...)

Ali erzählte ihm alles, nahm seinen Koffer und kämpfte sich durch den Busbahnhof zu den Taxen. Er
ging einfach zu einem Fahrer zu von dem er fand, dass er besonders sympathisch aussah:
„Was kostet der Flughafen?“
„Kommt drauf an... „
„Wie meinen Sie das?“
„Na ja, ob Du den Inlandsbereich oder den Auslandsbereich oder beides kaufen willst; in dem Fall wird es sehr teuer.“
Ali lachte.
„Nein, ich meine natürlich die Fahrt zum Flughafen.“
„Ach ja, die Fahrt kostet 100 Lira.“
„Das gibt's ja wohl nicht!..“

Ali nahm kurzentschlossen seinen Koffer, drehte sich sofort um und tat so, als ob er gehen würde.
Das machte seine Tante auch immer so, wenn sie auf dem Wochenmarkt etwas herunterhandeln
wollte. Irgendwie klappte das auch immer. Jetzt musste Ali sich konzentrieren. Die gesamte Kunst
des Feilschens war nun gefragt. Er musste jetzt so tun, als sei er beleidigt. Natürlich hatte der Fahrer zuviel gefordert. Natürlich würde er mit dem Preis heruntergehen. Aber um wie viel? Das war die entscheidende Frage.
„Hey, halt! Wie viel willst du denn zahlen?“

Ali grinste breit ohne dass es der Fahrer sehen konnte. Seine Rechnung ging auf.
„Toll, Tante!“, dachte er:
„Ich zahle Ihnen alles, was ich habe.“
„So? Wie viel hast du denn?“
„100 bestimmt nicht.“
„Na, wie viel denn?“
„Also viel weniger, und sonst kein Kurusch mehr.“
„Na, sag' schon! Wie viel..'?“
“20 Lira...“
„Komm', Junge, geh' nach Hause...... ist besser.“

Ali sah, dass der Fahrer sauer wurde. Er beschloss, nicht mehr mit ihm zu feilschen und sehr freundlich zu werden und fragte ihn mit der nettesten Stimme, die er hatte:
„Wie komme ich denn von hier zur Bushaltestelle?“
„Geradeaus und rechts. Dann sind es noch 900 Meter auf der rechten Seite.“
„Meinen sie, da fahren noch Busse zum Flughafen?“
„Ich glaub' nicht. Aber du kannst dich ja erkundigen. Vielleicht fahren doch noch welche.“

Ali bedankte sich und schaute erneut auf die Uhr. Ihm blieben nur noch 75 Minuten. Ob die Zeit noch reichen würde? Ali spürte die Schwere des Koffers. Er hatte das Gefühl, sein Körper bildete mit dem Koffer ein Dreieck. Er trug ihn mal auf der rechten, mal auf der linken Seite. Es war nicht ganz klar, wer wen führte; der Koffer ihn oder er den Koffer? Die neugierigen Blicke der Passanten ignorierte Ali ganz einfach. Die ersten Schweißperlen rollten ihm langsam die Schläfen hinunter.

Endlich war er an der Bushaltestelle. Er stellte den Koffer hin, setzte sich darauf und atmete tief durch. Ob er den Frischkäse lieber essen sollte, überlegte er. Langsam hatte er auch wieder Hunger bekommen. Doch schnell verdrängte er diesen Gedanken. Er suchte den Busfahrplan. Nichts. Istanbul, die Weltstadt und kein Fahrplan. „Scheiße!“ fluchte er. Er fragte die Passanten und erfuhr, dass es keinen Bus mehr gab. Erst wieder am nächsten Morgen, um 6 Uhr. Ali war zum Heulen zumute. Seine Familie, seine Freunde, Deutschland: Alles rückte immer weiter in die Ferne. Er dachte an sein tolles Zeugnis und das Glückwunschschreiben der Schulleitung für seine Eltern. Das wollte er doch so stolz seiner Familie zeigen — und nun? Ali nahm wieder seinen Koffer. Er fluchte auf den Frischkäse und die-
ses Mal auch auf seine Tante. Wieder am Busbahnhof angelangt, sah er den Taxifahrer. Er lächelte verschmitzt:
„Na, wenig Erfolg, hab' ich recht?“

Wortlos stellte Ali seinen Koffer ab und ließ sich wieder auf ihn nieder. Mit dem rechten Daumen und
dem Zeigefinger stütze er sein Kinn und dachte nach. Jetzt sah er so aus wie Atatürk auf jenem Bild
auf den Bergen Samsuns. Da war er gerade aus Istanbul angekommen, um den türkischen Aufstand gegen die Besatzungsmächte von Anatolien aus zu organisieren. Doch Ali wollte nur nach Deutschland. Sonst nichts. Was wohl Atatürk in einer solchen Situation gemacht hätte?

Der Taxifahrer hatte bereits einige Kunden. Sie warteten auf andere Kunden, um sich den Fahrpreis zu teilen. Ali vernahm, dass der Taxifahrer, auf ihn verweisend, mit den Fahrgästen sprach. Diese waren türkische Gastarbeiter, die in Deutschland arbeiteten. Sie galten als reiche Leute. Offenbar fragte der Taxifahrer, ob sie Ali nicht helfen könnten. Die Fahrgäste waren neugierig und wollten Genaueres wissen. Der Fahrer rief Ali zu sich und forderte ihn auf, zu erzählen, was ihm passiert war.
„Der Zweck heiligt die Mittel!“ dachte Ali, also musst Du ihnen eben dieselbe Geschichte wie vorhin im Bus erzählen!“
„Guten Abend!“ sagte er brav.
„Wo kommst du her?“, fragte einer der Gäste.
„Aus Bursa.“
Die Fahrgäste guckten Ali etwas befremdend an. Denn Bursa galt als die Homosexuellenstadt der Türkei, zumal zwei berühmte türkische Musiker aus Bursa stammen, die keinen Hehl aus ihrer Homosexualität machten. Ali spürte diese Befremdung sofort und ergänzte:
„Das heißt, ich komme aus der Nähe von Bursa. Die Stadt heißt Gemlik. Also ich bin ein Gemliker.“
„Wo willst du denn hin, in Deutschland?“
„Nach Köln.“
„So? Und was willst du machen, wenn du in Köln bist?“
„Meine Eltern warten dort auf mich. Anschließend fahren wir nach Siegburg. Ich glaube, das ist 30 km von Köln entfernt. Es liegt auf der Autobahn zwischen Köln und Frankfurt.“
„Du scheinst dich ja auszukennen?“
„Natürlich. Ich war letztes Jahr in den Ferien auch schon da. Wir sind da ganz viel herumgefahren. Onkel, leihen Sie mir doch das Geld für die Fahrt, bitte! Sie können es gleich am Flughafen wieder-
haben. Das sind doch weniger als 10 DM für Sie.“
„Das würde ich gerne tun, aber ich fliege nach Stuttgart, weißt du...“

Jetzt mischte sich der Taxifahrer ein:
„Sie haben mir doch vorhin gesagt, dass Sie nach Köln fliegen?“
„Nein, das müssen Sie falsch verstanden haben.“
Ali spürte, wie die Luft immer dicker wurde. Es war offensichtlich, dass dieser Fahrgast log. Was sollte
er nun machen? Einmal musste er es noch probieren:
„Trotzdem, Onkel! Geben Sie mir Ihre Adresse und mein Vater schickt Ihnen das Geld dann zu. Hier:
Sie können auch meine Reisepapiere sehen — ich lüge nicht!“
„Was hast du denn mit Deinem Geld gemacht?“
„Man hat es mir gestohlen“.
“Erst gibst Du das Geld aus, dann erzählst Du hier, man hat es gestohlen. Komm, komm! Das kenne
ich! Du willst mich doch nur betrügen!“

Der Taxifahrer mischte sich wieder ein:
“Hören Sie, was sind schon 40 Lira für Sie? Sie verdienen doch Tausende davon in Deutschland! Außerdem möchten Sie doch den Jungen nicht beleidigen; wenn Sie ihm schon nicht helfen wollen,
dann halten Sie gefälligst ihren Mund, klar?“
„Was ist denn mit dir los, Du Arschloch. Ich ahnte es doch: Ihr arbeitet zusammen!

„Jetzt....“
dachte Ali. Jetzt geht's los. Wieder war ein Hoffnungsschimmer dahin. Denn der Taxifahrer ließ sich
das bestimmt nicht gefallen. Sieh da, schon verpasste der Taxifahrer dem Fahrgast einen Fausthieb. Mann, war das ein Schlag. Er hatte schon gehört, dass man sich mit den Taxifahrern und den Prostituierten in Istanbul besser nicht anlegen sollte, aber dass es so heftig zugehen würde...

Ali hatte plötzlich wahnsinnige Angst vor diesem Taxifahrer bekommen, verbunden mit einer gehöri-
gen Portion Respekt vor ihm. Dieser Mann hatte Sinn für Gerechtigkeit, hatte Charakter und ließ sich nichts gefallen. Alle Beschäftigten vom Busbahnhof waren mittlerweile zur Stelle. Es kamen immer
mehr. Inzwischen hielten einige Männer den Taxifahrer davon ab, weiter zu schlagen. Ali sah in dem Gedränge zwei Mützen von Polizisten. Langsam kämpften sie sich durch die Menschenansammlung.
Nun waren sie auch zu ihnen gestoßen und gingen auf den Taxifahrer zu:
“Bruder Ahmet, was ist los?“
“Dieser Idiot nennt mich Arschloch, das lasse ich mir doch nicht gefallen!“
“Warum macht er das?“
Der Taxifahrer hatte sich inzwischen beruhigt. Eine Zeit lang hatte er an einen Vulkan erinnert. Drei Männer hatten Schwierigkeiten gehabt, ihn zu bändigen. Erschöpft standen sie neben ihm. Bruder Ahmet erzählte die ganze Geschichte. Einer der Polizisten wandte sich zu dem Fahrgast:
“Stimmt das?“

Der Fahrgast stand recht unbeholfen da. Es war offensichtlich, dass er nicht wusste, was er tun sollte. Er ließ wortlos den Kopf auf die Brust sinken.

(Ali ist nach weiteren endlich am Flughafen. Er wird von dem älteren Zeki betreut, der Abiturient ist
und sich um ihn kümmert. Das Flugzeug hat Ali bereits verpasst...)

Zeki schaltete sich ein:
„So, Bruder Ahmet muss weiter, ich übernehme Dich jetzt. Du hast ja jetzt
erst mal genug Zeit. Was hältst du davon, nachzuschauen, wann das Flugzeug meiner Schwester kommt?“
„Hab' ich nichts dagegen.“
„Aber warte hier mal eine Sekunde auf mich, bin gleich wieder da“
sagte Zeki und verschwand. Ali war zwar etwas überrascht, aber wartete. Ob Zeki auf die Toilette
ging und es ihm nicht sagte, weil es ungebührlich gewesen wäre? Na ja er würde ihn schon nicht hier hängen lassen. Er bestimmt nicht. So einer war er nicht, das spürte Ali. Aber erhätte doch sagen können, wenn er auf die Toilette wollte, war doch nichts dabei. Das war jawohl keineswegs unge-
bührlich.

Aber Istanbul war halt seit Jahrhunderten stets die Hochkultur der Moderne. Alle wichtigen kulturellen Tendenzen gingen von dieser Metropole aus. Istanbul würde eben doch seinen Charakter als die heimliche Hauptstadt der Türkei immer bewahren. In der Schule hatte er gelernt, dass Atatürk die damals kleine Stadt Ankara 1923 vor allem deshalb zu Hauptstadt der neugegründeten Republik aus-
rief, weil sie der zentralste Ort Anatoliens war und im Falle einer Invasion des Landes von den Fein-
den nicht so schnell eingenommen werden konnte, wie einst Istanbul während des 1. Weltkrieges.

In Gedanken versunken, hatte Ali gar nicht gemerkt, dass Zeki schon wieder neben ihm stand und
ihn lieblächelnd ansah. Zeki hatte einen Gepäckwagen organisiert. Oh Mann! War der toll! Klasse! Endlich, endlich konnte er sich mit diesem blöden Koffer und der Frischkäse, der immerhin annähernd
5 Kilogramm wog, versöhnen. Zeki hatte sich unterdessen auch erkundigt und teilte Ali bei der Gelegenheit mit, dass das Flugzeug seiner Schwester um 00.30 Uhr landen würde. Sie hatten also
noch gute 2 Stunden, die sie miteinander verbringen würden. Sie stellten den Koffer vorsichtig auf
den Gepäckwagen machten ein Stabilitätstest und gingen dann quer über den Flughafen.

Überall sah Ali Menschenschlangen. Die Passagiere wollten entweder ihr Gepäck aufgeben oder Auskünfte einholen oder einfach nur bummeln, weil sie noch Zeit hatten. Manche hatten es sich auf
den Sitzbänken gemütlich gemacht. Ganz ulkig fand Ali aber zwei europäische Freaks, die ihre Schlafsäcke direkt vor der Polizeistation ausgebreitet hatten und tief und fest schliefen. Das wenige Gepäck, das sie hatten, hatten sie mit einer Schnur an ihrem Körper festgebunden. Sie hatten lange Haare und einen Bart. Ihre Kleidung war aus „Basma“: Alles: Sowohl die Jacke als auch die Hose. „Basma“ war ein Billigstoff mit großen Blumenmustern. Dieser Stoff war in der Türkei nicht sehr be-
gehrt, zumal es bessere Stoffe mit dezenteren Mustern gab. Basma wurde eher von Frauen in dörf-
lichen Gegenden getragen. Und diesen Frauen wurde Sinn für Mode und das Schöne schlichtweg abgesprochen. Wieder fiel Alis Blick auf die Sicherheitsschnur. Wahrscheinlich hatten die beiden Horrorgeschichten über die Diebe in Istanbul gehört. Oder dachten die, dass die Polizisten sie be-
klauen wollten?

Zeki war empört über das schlampige Aussehen dieser beiden. Er wusste, dass Ali schon mal in Deutschland gewesen war. Er fragte ihn:
„Sag' ,mal, ist das normal in Deutschland?“
„Ich glaub', ja!“
„Ich denke, die Europäer sind zivilisiert? Das ist ja der reinste Dreckshaufen hier! Oder erkennst Du
an den beiden Zeichen von Zivilisation?“
„Weiß nicht...“

Einer der beiden wachte in diesem Moment auf. Er guckte total lieb und sah richtig freundlich aus. Er merkte offenbar, dass sich Ali und Zeki über sie unterhielten. Er guckte fragend, dann sagte er etwas auf Englisch. Ali schubste Zeki:
„Du machst doch Abitur, du kannst bestimmt Englisch. Sag' doch mal was zu ihm.“
Zeki verkrampfte sich. Ihm passte es offenbar nicht, dass er jetzt auf Englisch reden sollte. Er wollte
Ali aber auch nicht sagen, dass er in Englisch eine Niete war.
„Ach was, mit dem rede ich doch nicht!“
„Ach komm..... Bitte...!“
„Na gut... HeIlo!“
„HeIlo...?“
„What are you doing in Turkey?“

Dieser Freak beantwortete die Frage und holte etwas aus. Es war nur noch er, der sprach. Ali ver-
stand nur einige Wörter. Fragend guckte er zu Zeki. Der wirkte jetzt noch verkrampfter. Er lächelte ab und zu verlegen. Manchmal nickte er mit dem Kopf und sagte
„Yes, yes“.
Das war alles. Ali hörte Zeki nur noch
„Goodbye“
sagen und ließ sich von Zeki, der weiterdrängte, mitreißen.

Als sie etwas weiter weg waren, schaute Zeki sich um. Der Freak grinste so teuflisch. Er hob seine rechte Hand und machte ein Victory-Zeichen. Wieder blickte Ali zu Zeki.
„Was hat er denn gesagt?“
„Ach, wir haben uns unterhalten, nicht wahr...“
„Aber worüber denn?“
„Ach, über dies und das...“
„Was ist er denn und was macht er?“
„Er ist der Sohn des englischen Botschafters in Istanbul.“
„Ehrlich?“
„Ja, wenn ich dir es doch sage!“
„Was hat er denn noch erzählt?“
„Ich weiß es nicht; frag' doch nicht so blöd!“
„Wie, du machst doch Abitur, du musst doch Englisch können!“
„Ich habe es nie richtig gelernt!“
„Du musst es doch lernen; das ist doch Pflicht!“
„Es kam ja nie ein Lehrer. Die Hälfte der Zeit haben wir Comics gelesen. Hast du denn nicht gehört,
dass Fremdsprachenlehrer aufgrund der schlechten Bezahlung gleich in die freie Wirtschaft gehen?“
„Ach so.“

(...)
Erlebniskochen